Steuerrecht

Die Fesseln der Wegzugsbesteuerung

Das Schlagwort Wegzugsteuer löst zu Recht bei den meisten Gesellschaftern einer Kapitalgesellschaft ein leichtes Schaudern aus. Unter diesem Schlagwort wird eine Steuer auf Gewinne aus einer fiktiven Veräußerung von Kapitalbeteiligung geführt, welche erhoben wird, sobald der Gesellschafter in Ausland verzieht. 

Mit seiner Entscheidung vom 06.09.2023 hat der Bundesfinanzhof (BFH) als oberstes Gericht für Steuerthemen dieser Wegzugsbesteuerung deutliche Schranken gesetzt. Das Gericht hat entschieden, dass Wegzugsteuern bei Umzügen innerhalb des Gebiets der EU und der Schweiz (Europäischer Wirtschaftsraum; EWR) schon bei der Festsetzung unbefristet zu stunden sind.  

Ist damit alles gut? 

Davon auszugehen, dass sich damit das leidvolle Thema der Wegzugsbesteuerung erledigt hat, wäre sicherlich zu kurz gesprungen. Formal bleibt zunächst abzuwarten, ob die Finanzverwaltung die Entscheidung als allgemeingültig anerkennt und wie sie diese Entscheidung umsetzt. 

Darüber hinaus betrifft das Urteil auch nur einen Verzug ins EU-Ausland oder in die Schweiz, also Destinationen, welche dem Schutz der Niederlassungsfreiheit mit dem Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU (FZA) eine gesetzliche Grundlage gegeben haben. Ob das Urteil auch für einen Verzug in das Drittland greift, bleibt fraglich. 

Schließlich greift der Rechtsschutz erst auf Ebene der Vollziehung. Die Steuern werden also nach wie vor im Rahmen der Einkommensteuer festgesetzt und damit im Zweifel auch rechtskräftig. Sie sind lediglich bis zu einem Verkauf der Anteile noch nicht zu zahlen.  

Weiterhin unklar sind die Probleme, die sich schließlich aus einem Verkauf zum signifikant niedrigeren Wert oder einer Insolvenz ergeben.   

Wer ist betroffen? 

Nach wie vor reicht nach § 6 AStG eine ausreichende Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft. Betroffen ist damit jeder, der eine Beteiligung von mehr als 1% bspw. an einer GmbH und ausreichend lange (7 Jahre innerhalb der letzten 12 Jahre) in Deutschland gelebt hat. Es reicht eine rein passive Beteiligung. Welchen Einfluss der Gesellschafter auf die Gesellschaft nehmen kann ist nicht relevant.  

Welche Fälle sind erfasst? 

Für die Entstehung der Wegzugsteuer ist der Anlass und die Dauer des Wegzugs unerheblich.   

Es ist bereits ausreichend, dass mit dem Wegzug das Besteuerungsrecht Deutschlands eingeschränkt wird. Dabei ist das Motiv eines Wegzugs ins Ausland in den seltensten Fällen eine Steuervermeidung. Vielmehr stehen neben dem schlichten Wunsch auszuwandern häufig sogar sachliche Gründe im Vordergrund:   

  1. Es kann bspw. der vorweggenommene Erbe sein, welcher für ein Studium ins Ausland verzieht. 

  1. Es kann ein Gesellschafter sein, welcher für seine berufliche Primärtätigkeit eine Auslandsverwendung übernimmt oder ggf. sogar übernehmen muss, um sich Karrierechancen zu erhalten. 

  1. Es kann ein Gründer oder Businessangel eines Startups sein, welcher ins Ausland verziehen muss, um dort eine weitere Niederlassung oder eine Vertriebsgesellschaft aufzubauen. 

  1. Manchmal ist es vielleicht auch nur der Wunsch nach einem Sabbatical im Ausland. 

Das sind alles legitime Gründe, welche dennoch über Steuern auf fiktive Veräußerungsgewinne sanktioniert werden.  

Was macht die besondere Härte der Wegzugsbesteuerung aus? 

Bei all diesen Anlässen trifft die Wegzugsteuer die Betroffenen mit einer außerordentlichen Härte. Eine Wegzugsteuer erreicht leicht existenzgefährdende Dimensionen, da der zu zahlenden Steuerlast keine Cash- Erlöse gegenüberstehen (sogenanntes „dry income“). Wenn das sonstige Vermögen also nicht ausreicht, um Steuern zu bedienen, droht die Privatinsolvenz. 

Um ein plakatives Beispiel zu bemühen, sieht sich der erfolgreiche Gründer, dessen Anteile für Steuerzwecke mit einem Wert von bspw. EUR 12,5 Mio. geschätzt werden, einer Steuer last von EUR 3,5 Mio. ausgesetzt, selbst wenn er zum Aufbau einer Vertriebsgesellschaft ins Ausland zieht. Dabei ist es unerheblich, ob die Anteile überhaupt verwertbar gewesen wären. Schließlich verbieten häufig gesellschaftsrechtliche Vereinbarungen einen Verkauf oder es gibt für die Anteile rein faktisch keinen Käufer. 

Bleibt nach der Entscheidung des BFH noch Handlungsbedarf? 

Für Umzüge innerhalb des EWR sollten die spontanen Härten einer Wegzugsbesteuerung ihren Schrecken verloren haben, solange nicht während des Auslandsaufendhalts durch einen Verkauf oder eine Insolvenz Verluste realisiert werden.  

Unbenommen von der Entscheidung des BFH verlangt die Regelung zur Wegzugsbesteuerung auch bisher erweiterte Mitwirkungspflichten bei einer gewährten Stundung. So ist der wegziehende Gesellschafter jährlich verpflichtet, Auskünfte über seinen Wohnsitz und den Bestand der Anteile zu machen.  Unterlässt oder verzögert er diese Mitteilungen kann die Stundung aufgehoben werden. 

Aus der Urteilsbegründung des BFH lässt sich nicht ableiten, dass der BFH diese Mitwirkungspflichten in Frage stellt. 

Verzieht der Gesellschafter ins Drittland (nicht EWR-Ausland), sollte dieser seinen Wegzug gut vorbereiten. In diesem Fall wäre man schlecht beraten, wenn man sich auf das Urteil des BFH verließe. Die von dem BFH bemühte Begründung verfängt im Drittland wohl in der Regel nicht. Außerhalb des EWR ist weder die Niederlassungsfreiheit in Staatsverträgen gesetzlich verankert, noch ist immer der für eine Durchsetzung von Steuerforderungen erforderliche Informationsaustausch und eine Beitreibungsrechtshilfe sichergestellt. 

Was ist zu tun? 

Bei einem Wegzug ins EWR-Ausland ist im Veranlagungsverfahren ungeachtet der neuen Rechtsprechung eine sachgerechte Bewertung durchzusetzen. Auch wenn zunächst keine Steuer fällig wird, bleibt der Steuerbescheid rechtskräftig und wird im Fall einer Veräußerung in der seinerzeit festgesetzten Höhe fällig. Zusätzlich ist der Wert der Beteiligung gewissenhaft zu beobachten. Werden die Anteile gegenüber dem festgesetzten Wert signifikant entwertet oder gehen die Anteile sogar durch Liquidation, Insolvenz oder ähnlich gelagerte Umstände unter, kann gegebenenfalls noch ein Rückzug helfen, um die festgesetzte Wegzugsteuer rückwirkend zu beseitigen. 

Bei einem Wegzug aus dem EWR heraus helfen ggf. nur die alten Gestaltungsansätze um einen Mitzug der Anteile in das Ausland zu vermeiden. Da die Beteiligungen steuerrechtlich im Normalfall an der Person des Gesellschafters haften und so mit ihm ins Ausland verziehen, setzten die Gestaltungsansätze darauf, die Beteiligungen in Deutschland zu verankern. In diesem Fall bliebe das Besteuerungsrecht Deutschlands auf die Beteiligungen erhalten und es würde keine Wegzugsbesteuerung ausgelöst. 

Regelmäßig werden hier gesellschaftsrechtliche Lösungen über GmbH & Co. KGs, Genossenschaften oder Stiftungen vorgeschlagen. 

All diese Gestaltungen sind äußerst komplex und auf die Rechtssphäre des Zuzugsstaats und Deutschlands abzustimmen. Es ist beispielsweise nicht sichergestellt, dass eine Familienstiftung nach deutschem Recht auch im Staat des Zuzugs anerkannt wird. Eine unabgestimmte Lösung bspw. über eine Familienstiftung würde zwar im Zweifel die spontane Wegzugsteuer zunächst einmal vermeiden. Dafür droht dann im Fall eines Verkaufs eine echte Doppelbesteuerung durch den Zuzugsstaat und Deutschland – ein teures Vergnügen. 

Vor einer Umsetzung solch komplexer Lösungen sollte man sich zunächst einmal einen Überblick über die Wertverhältnisse der eigenen Anteile verschaffen. Dabei ist auf die eigenen Anteile selbst und auf den Zeitpunkt eines Wegzugs abzustellen. Es ist also nicht nur allein der anteilige Gesellschaftswert relevant. Es müssen auch die individuellen Belastungen der Anteile wie bspw. Liquidationspräferenzen oder Nießbräuche berücksichtigt werden. Schließlich ist es ratsam die jeweilige Lösung mit den Finanzverwaltungen der involvierten Länder abzustimmen. Jedenfalls die Finanzämter in Deutschland kennen die Härten für wegziehende Gesellschafter und sind dem Grunde nach lösungsorientiert. 

Ob sich aus der neuen Rechtsprechung des BFH weitere Gestaltungsmöglichkeiten ergeben, lässt sich noch nicht klar sagen. Dazu sollte jedenfalls die Umsetzung der Entscheidung in der Finanzverwaltung abgewartet werden. 

Ein „Durchzug“ durch einen EWR-Staat wird aufgrund der Informationspflichten sicherlich nicht funktionieren. 

Ausblick

Insgesamt hat die Entscheidung des BFH die Niederlassungsfreiheit innerhalb des EWR weitgehend hergestellt. 

Für einen Verzug ins übrige Ausland werden wohl die altbekannten Probleme weiterhin bestand haben, was sicherlich noch immer eine relevante Belastung ist. Insbesondere für Steuerpflichtige, die lediglich passive Minderheitsgesellschafter ohne laufende Bezüge aus der Gesellschaft sind, können diese Beteiligung noch immer zu einer schweren Belastung der Lebensplanung werden.